Generative KI wie ChatGPT verspricht, das Lernen durch maßgeschneiderte und interaktive Ansätze zu revolutionieren. Eine aktuelle Studie von Chiu (2024) hat untersucht, wie ChatGPT die drei Grundbedürfnisse der Selbstbestimmungstheorie (SDT) – Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit – befriedigen und gleichzeitig die drei Phasen des selbstregulierten Lernens (SRL) – Planung, Durchführung und Reflexion – unterstützen kann.

Die Bedeutung der Grundbedürfnisse der SDT für das SRL

Die Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, SDT) von Edward Deci und Richard Ryan (1993) ist ein in der Motivationsforschung zentraler Ansatz, der erklärt, wie Menschen motiviert werden und wie diese Motivation auf Wohlbefinden und Leistung wirkt. SDT bietet eine theoretische Grundlage dafür, wie Schüler*innen aktiv und eigenständig lernen können, insbesondere im Kontext des selbstregulierten Lernens (SRL).

Kernelemente der SDT

SDT geht davon aus, dass Menschen drei grundlegende psychologische Bedürfnisse haben, die für intrinsische Motivation und effektives Lernen entscheidend sind:

  1. Autonomie: Das Bedürfnis, selbstbestimmt zu handeln und Entscheidungen zu treffen. Schüler*innen möchten das Gefühl haben, dass sie Kontrolle über ihre eigenen Handlungen und Lernprozesse haben.
  2. Kompetenz: Das Bedürfnis, sich effektiv und fähig zu fühlen. Schüler*innen wollen spüren, dass sie Fortschritte machen und Herausforderungen erfolgreich bewältigen können.
  3. Bezogenheit (Relatedness): Das Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit und Zugehörigkeit. Schüler*innen möchten sich mit anderen verbunden fühlen, sei es durch den Austausch mit Lehrkräften oder durch Zusammenarbeit mit anderen Lernenden.

Wenn diese drei Bedürfnisse erfüllt werden, sind Schüler*innen eher motiviert, aus eigenem Antrieb zu handeln (intrinsische Motivation) und ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

Relevanz der SDT für SRL

Selbstreguliertes Lernen (SRL) ist ein Prozess, bei dem Schüler*innen ihre Ziele, Strategien und Fortschritte eigenständig planen, überwachen und reflektieren. SDT und SRL sind eng miteinander verbunden, da die Erfüllung der drei psychologischen Bedürfnisse Lernende dazu befähigt, selbstregulierte Lernprozesse effektiv zu durchlaufen:

  1. Autonomie und SRL:
    Autonomie ist eine Schlüsselvoraussetzung für SRL, da selbstreguliertes Lernen auf Eigeninitiative basiert. Schüler*innen, die sich autonom fühlen, setzen sich eher eigene Lernziele, wählen geeignete Strategien aus und übernehmen Verantwortung für ihren Lernprozess.
  2. Kompetenz und SRL:
    Kompetenzerleben stärkt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und motiviert Schüler*innen, sich auf neue Herausforderungen einzulassen. Im SRL-Kontext bedeutet dies, dass Lernende Aufgaben aktiv angehen und ihre Fortschritte verfolgen.
  3. Bezogenheit und SRL:
    Bezogenheit spielt eine unterstützende Rolle, insbesondere durch soziale Interaktionen, wie Feedback von Lehrkräften oder Peer-Learning. Diese Verbindungen können emotionale Unterstützung bieten und Schüler*innen motivieren, am Ball zu bleiben.

Die Erkenntnisse der Studie

Die Studie von Chiu (2024) nutzte eine Delphi-Methodik mit 36 Lehrkräften und identifizierte 20 spezifische Lernaktivitäten, wie ChatGPT in den Unterricht integriert werden kann, um die drei Grundbedürfnisse der Selbstbestimmungstheorie zu befriedigen und das SRL zu fördern. Im Folgenden werden die 20 Lernaktivitäten beschrieben und aufgezeigt, wie sie die Grundbedürfnisse befriedigen und das SRL fördern.

Wie Lehrkräfte die Ergebnisse der Studie von Chiu (2024) im Unterricht nutzen können?

Die von Chiu (2024) entwickelte Klassifikation von ChatGPT-gestützten Lernaktivitäten bietet wertvolle Anregungen, wie Lehrkräfte generative KI wie ChatGPT nutzen können, um selbstreguliertes Lernen (SRL) zu fördern und gleichzeitig die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und Bezogenheit gemäß der Selbstbestimmungstheorie (SDT) zu erfüllen. Hier sind konkrete Anwendungsmöglichkeiten für den Unterricht:

1. Förderung von Autonomie durch Wahlmöglichkeiten

Schüler*innen fühlen sich motivierter, wenn sie Entscheidungen über ihren Lernprozess treffen können. Lehrkräfte könnten folgende Ansätze nutzen:

  • „Informationen suchen“: Lassen Sie die Schüler*innenmit ChatGPT nach vertieften Informationen zu einem Thema suchen. Geben Sie nur allgemeine Rahmenbedingungen vor und lassen Sie die Schüler*innen selbst entscheiden, wie sie die Ergebnisse in ihre Aufgaben einfließen lassen.
  • „Generiere neue Übungsaufgaben“: Ermutigen Sie die Schüler*innen, mit ChatGPT eigene Übungsaufgaben oder Quizfragen zu erstellen, die sie dann selbst oder in Gruppen lösen.

Nutzen: Schüler*innen übernehmen Verantwortung für ihren Lernprozess und entwickeln wichtige Planungs- und Entscheidungsfähigkeiten.

2. Stärkung der Kompetenz durch personalisiertes Feedback

ChatGPT kann helfen, das Bedürfnis nach Kompetenz zu erfüllen, indem es unmittelbares, präzises Feedback gibt:

  • Antworten überprüfen“: Lassen Sie die Schüler*innen ihre Lösungen zu einer Aufgabe von ChatGPT überprüfen. Dies kann bei Aufgaben in Mathematik, Fremdsprachen oder Naturwissenschaften besonders effektiv sein.
  • „Feedback für eigenes Werk einholen“: Schüler*innen können Texte, Essays oder Projektideen mit ChatGPT besprechen und Verbesserungsvorschläge erhalten.

Nutzen: Die Schüler*innen erhalten schnell konstruktives Feedback, das ihre Kompetenzerwartung stärkt und sie dazu motiviert, ihre Leistung weiter zu verbessern.

3. Unterstützung der Reflexion und Metakognition

Eine zentrale Phase im SRL-Prozess ist die Reflexion des eigenen Lernens. ChatGPT kann diese Phase gezielt unterstützen:

  • „Überprüfungsfragen erstellen“: Fordern Sie die Schüler*innen auf, mit ChatGPT Fragen zu erstellen, die ihr Verständnis eines Themas prüfen. Diese Methode kann helfen, Inhalte zu wiederholen und Wissenslücken zu identifizieren.
  • „Eigenes Werk zusammenfassen“: Lassen Sie die Schüler*innen mithilfe von ChatGPT eine prägnante Zusammenfassung ihrer Arbeit erstellen, um die Hauptpunkte ihres Lernprozesses zu reflektieren.

Nutzen: Reflexionsaktivitäten fördern die Fähigkeit, den Lernprozess zu bewerten und gegebenenfalls anzupassen.

4. Integration sozialer Bezogenheit im Unterricht

Obwohl ChatGPT soziale Bezogenheit nur begrenzt erfüllen kann, können Lehrkräfte die KI ergänzend einsetzen, um Interaktion und Austausch zu fördern:

  • „Diskussionsfragen generieren“: Schüler*innen können ChatGPT verwenden, um Fragen zu einem bestimmten Thema zu entwickeln, die dann in Klassendiskussionen verwendet werden.
  • „Mit ChatGPT diskutieren“: Schüler*innen üben Argumentation und kritisches Denken, indem sie ChatGPT als Diskussionspartner nutzen. Die Ergebnisse können anschließend in der Klasse präsentiert und diskutiert werden.

Nutzen: ChatGPT kann dazu beitragen, Diskussionen anzuregen und soziale Interaktionen im Klassenzimmer zu bereichern.

5. Differenzierung und individuelle Förderung

Die Klassifikation bietet Lehrkräften die Möglichkeit, Aktivitäten differenziert einzusetzen:

  • Förderung schwächerer Lernender: Aktivitäten wie „Definitionen erfragen“ oder „Beispiele erhalten“ können genutzt werden, um Schüler*innen mit Verständnisproblemen zusätzlichen Input zu geben.
  • Herausforderung für stärkere Lernende: Aktivitäten wie „Anspruchsvolle Aufgaben erstellen“ oder „Einblicke in komplexe Probleme gewinnen“ fordern leistungsstärkere Schüler*innen heraus und fördern deren Problemlösefähigkeiten.

Nutzen: Differenzierte Aufgaben sorgen dafür, dass alle Schüler*innen auf ihrem jeweiligen Niveau gefördert werden.

Fazit

Die Klassifikation von Chiu (2024) bietet eine praxisnahe Grundlage, um ChatGPT effektiv in den Unterricht zu integrieren. Lehrkräfte können diese Aktivitäten gezielt einsetzen, um die Motivation, das selbstregulierte Lernen und die Lernleistung der Schüler*innen zu fördern. Dabei bleibt die Rolle der Lehrkraft zentral: Sie ergänzt und steuert den Einsatz der KI, um soziale Bezogenheit und ein ausgewogenes Lernumfeld sicherzustellen.

Die vollständige Tabelle mit den Lernaktivitäten kannst du hier herunterladen und für die Planung deines Unterrichts nutzen:

Literatur

Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik39(2), 223-238.


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