Wir kennen sie alle: Die guten alten ⋆, ⋆⋆ und ⋆⋆⋆-Aufgaben. Sie sind seit Jahrzehnten das scheinbar probate Mittel, um der immensen Heterogenität in unseren Klassenräumen gerecht zu werden. Doch Hand aufs Herz: Haben sie wirklich immer die gewünschte Wirkung erzielt? Oft genug führen diese starren Kategorien zu einem unerwünschten doppelten Effekt:
- Unterforderung und Langeweile: Leistungsstärkere Kinder fühlen sich schnell unterfordert und gelangweilt, weil sie Routinen abspulen, die ihren aktuellen Entwicklungsstand längst überschritten haben. Sie üben das, was sie ohnehin schon beherrschen, was keinen nachhaltigen Kompetenzzuwachs bewirkt.
- Frustration und Stigmatisierung: Gleichzeitig fühlen sich andere Schülerinnen und Schüler frustriert oder gar stigmatisiert, weil sie kaum über die *-Aufgaben hinauskommen oder die ***-Aufgaben von vornherein gar nicht erst in Angriff nehmen. Die Differenzierung wird zum Sortiermechanismus und sendet subtil die Botschaft: “Du bist eine *-Person. Deine Obergrenze ist diese einfache Aufgabe.” Dies kann ein fixiertes Selbstbild (Fixed Mindset) manifestieren.
Es ist Zeit für einen echten Paradigmenwechsel. Wir müssen weg von der statischen Kategorisierung nach Schwierigkeitsgraden und hin zu einem dynamischen Modell, das auf den tatsächlichen Bedürfnissen unserer Schülerinnen und Schüler basiert: der Differenzierung durch variierende Unterstützung (Scaffolding).
Die Idee: Differenzierung durch Unterstützung: Warum alle denselben Gipfel erklimmen können
Traditionelle Differenzierung arbeitet meist mit unterschiedlichen Aufgaben für unterschiedliche Leistungsniveaus. Manche bekommen einfachere Inhalte, andere herausfordernde. Die Absicht dahinter ist gut, doch das Ergebnis häufig problematisch: Lernwege driften auseinander, Erwartungen senken sich, Potenzial bleibt ungenutzt. Der Ansatz der Differenzierung durch Unterstützung dreht diese Logik um: Alle lernen am selben anspruchsvollen Ziel – aber mit individuell angepasster Unterstützung.
Was bedeutet “Differenzierung durch Unterstützung”?
Die Kernidee ist bestechend einfach: Alle Lernenden arbeiten an derselben Kompetenz, derselben herausfordernde Aufgabe, denselben Kompetenzgipfel. Der Unterschied liegt nicht mehr im Inhalt, sondern im Weg dorthin. Statt das Lernziel zu senken, variieren wir die Hilfen, die ein Kind benötigt, um erfolgreich dorthin zu gelangen. Man kann es sich wie eine gemeinsame Bergbesteigung vorstellen:
Alle wollen denselben Gipfel erreichen. Das Kompetenzziel ist für alle dasselbe, es gibt keine “leichten” Hügel für einige und “echte” Gipfel für andere.
Die Ausrüstung unterscheidet sich. Manche benötigen eine detaillierte Karte und feste Bergschuhe (viel Hilfestellung). Andere brauchen einen erfahrenen Bergführer, der sie an schwierigen Passagen sichert (mittlere Hilfestellung). Wieder andere benötigen lediglich einen kleinen Hinweis, welche Route die schönste Aussicht bietet (sehr geringe Hilfestellung).
Und doch sieht der Weg für jedes Kind anders aus
Oft wird angenommen, dass Scaffolding zwangsläufig darauf zielt, dass am Ende alle Lernenden ohne jegliche Unterstützung arbeiten können. Doch darum geht es nicht. Der eigentliche Kern der Differenzierung durch Unterstützung lautet: Alle Kinder sollen die angestrebte Kompetenz erreichen – mit dem Maß an Unterstützung, das sie brauchen. Und dieses Maß darf unterschiedlich sein. Für einige Lernende werden Hilfen Schritt für Schritt reduziert, weil sie sicherer werden. Für andere bleibt ein bestimmter Grad an Unterstützung sinnvoll – nicht als Makel, sondern als legitimer Bestandteil ihres Lernweges. Entscheidend ist nicht, dass jede Form der Hilfe verschwindet, sondern dass die Kompetenz aufgebaut wird. Entscheidend ist also, dass die Lernenden ihre Fähigkeiten erweitern und das Zielniveau meistern können, mit einem Unterstützungsgrad, der für sie sinnvoll und notwendig ist. Der Fokus verschiebt sich damit:
Es geht nicht um Autonomie um jeden Preis, sondern um erfolgreiche Kompetenzentwicklung.
Das wissenschaftliche Fundament: Vygotsky und die Zone der proximalen Entwicklung
Dieses Prinzip ist keine pädagogische Mode, sondern die praktische Umsetzung einer der einflussreichsten Lern-Theorien: Vygotskys Zone der proximalen Entwicklung (ZpE). Die ZpE beschreibt die optimale Lernzone – das ist der Bereich zwischen dem, was ein Kind alleine kann (aktueller Entwicklungsstand), und dem, was es mit gezielter Hilfe erreichen kann (potenzieller Entwicklungsstand).
Warum traditionelle Differenzierung so oft ins Leere läuft
In vielen Klassenzimmern bedeutet Differenzierung bis heute, dass Lernende verschiedene Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden bearbeiten – und damit häufig auch unterschiedliche Lernziele verfolgen. Genau hier entsteht das Problem: Sobald nicht mehr alle auf denselben Gipfel hinarbeiten, sondern sich die Ziele auseinanderbewegen, geraten viele Lernende aus ihrer optimalen Lernzone.
- Für leistungsstarke Lernende: Wenn sie schnell mit der Kernaufgabe fertig sind, führt die klassische Lösung oft zu Zusatz- oder Erweiterungsaufgaben, die inhaltlich zwar anders aussehen, aber nicht unbedingt anspruchsvoller sind. Das Ergebnis: Langeweile und fehlende kognitive Herausforderung, weil sie an Aufgaben arbeiten, die nicht wirklich über ihr aktuelles Kompetenzniveau hinausführen.
- Für leistungsschwächere Lernende: Ihnen werden häufig vereinfachte Aufgaben angeboten, die ein niedrigeres Anforderungsniveau haben oder ein reduziertes Ziel verfolgen. Das Problem: Sie bewegen sich dabei meist innerhalb dessen, was sie ohnehin schon können. Die Folge: Unterforderung, geringe Lernzuwächse und das Gefühl, nicht wirklich mitzuzählen.
- Für beide Gruppen: Auf der anderen Seite kommt es häufig vor, dass Lernende – egal ob leistungsstark oder leistungsschwach – Aufgaben erhalten, die für sie individuell zu schwierig sind. Die Konsequenz: Überforderung, Frustration und ein Lernprozess, der ins Stocken gerät.
Scaffolding: Alle Kinder Erreichen den Gipfel
Jeder Lernende hat das Potenzial, den Gipfel zu erreichen – aber nicht jeder startet vom gleichen Basislager oder braucht dieselbe Ausrüstung. Dieses Bild beschreibt perfekt das pädagogische Konzept des Scaffolding (Gerüstbau), das im Zentrum einer modernen, individuellen Förderung steht. Es geht im Wesentlichen darum: Wir wählen eine herausfordernde Kernaufgabe und passen dann die individuelle Unterstützung so an, dass jedes Kind erfolgreich sein kann. Der Schlüssel liegt in der Erkenntnis, dass effektives Lernen dort stattfindet, wo es herausfordernd, aber machbar ist. Die Aufgabe, die wir wählen, liegt bewusst in der Zone der nächsten Entwicklung (ZpE) des Kindes – also knapp über dem, was es bereits alleine kann.
- Der Gipfel steht für das anspruchsvolle Ziel, das alle erreichen sollen – z. B. eine komplexe Schreibform, eine Problemlösestrategie oder ein vertieftes Verständnis.
- Der Aufstieg ist der individuelle Lernprozess – mit unterschiedlich intensiver Begleitung.
Die Stärke des Scaffolding: Individuelle Stützen
Die Form der Unterstützung variiert, nicht die Aufgabe selbst:
- Kind A braucht wenig Unterstützung: Nur eine Checkliste und kurze Rückmeldung
- Kind B braucht mittlere Unterstützung: Detaillierte Teilschritte, visuelle Hilfen, Fragen zur Reflexion
- Kind C braucht starke Unterstützung: Direkte Modellierung der Aufgabe, gemeinsames Erarbeiten der ersten Schritte
All dies zeigt: Nicht die Lernenden sind das Problem – sondern eine Differenzierung, die mit verschiedenen Zielen arbeitet. Wenn unterschiedliche Gipfel bestiegen werden, verlieren manche die Herausforderung, andere die Orientierung, wieder andere den Anschluss. Der Ansatz der Differenzierung durch Unterstützung löst genau dieses Problem, indem alle am gleichen Ziel arbeiten und sich nur die Unterstützung unterscheidet.
Die drei Säulen der Differenzierung durch Unterstützung:
Um die Differenzierung durch Unterstützung erfolgreich in die Praxis umzusetzen, bedarf es einer Neukonzeption von Unterricht. Dies basiert auf drei essenziellen Säulen:

1 Das gemeinsame Kompetenzziel festlegen: der „Gipfel“ für alle
Das Fundament ist ein klar formuliertes, anspruchsvolles Kompetenzziel, das über reine Wissensabfrage hinausgeht. Es muss so gewählt sein, dass es für die meisten Lernenden im potenziellen Entwicklungsbereich liegt – also herausfordernd, aber erreichbar.
Beispiel Mathematik:
Nicht (Wissensfokus): „Die Schüler kennen die Flächenformel für Dreiecke.“
Sondern (Kompetenzfokus): „Die Lernenden können die Flächenformel des Dreiecks herleiten und ihre Gültigkeit durch eine geometrische Überführung in ein Rechteck beweisen und begründen.“
Dieses anspruchsvolle, tiefe Lernziel sorgt dafür, dass alle Lernenden eine tragfähige Kompetenz erwerben – nicht nur eine Formel, sondern eine begründete mathematische Einsicht.
2 Die gemeinsame Kernaufgabe konzipieren: das „Challenge-Level“ für alle
Damit alle Lernenden auf das gleiche Ziel hinarbeiten können, braucht es eine Kernaufgabe, die reichhaltig, authentisch und komplex ist. Sie sollte so gestaltet sein, dass sie nur mit der angestrebten Kompetenz – oder durch gezieltes Scaffolding – gelöst werden kann.
Beispiel Mathematik:
Nicht: „Berechne die Fläche der fünf Dreiecke.“
Sondern: „Eine Firma möchte einen dreieckigen Dachgiebel mit Holz verkleiden. Die Maße sind gegeben. Führen Sie dem Chef überzeugend vor, warum Ihre Berechnung des Flächeninhalts stimmen muss, und stellen Sie Ihre Begründung visuell dar.“
Diese Art von Aufgabe verbindet Rechnen, Denken, Begründen und Darstellen – ein echter Kompetenznachweis.
3 Flexible Unterstützung (Scaffolding) bereitstellen: Das “Maß des Helfens”
Die dritte Säule ist das Herzstück der Differenzierung durch Unterstützung: die passgenaue, flexible Bereitstellung von Hilfen, die es jedem Lernenden ermöglichen, am gemeinsamen Ziel zu arbeiten. Scaffolding bedeutet nicht, Aufgaben zu vereinfachen, sondern Hürden durch passende Stützen zu überbrücken. Die Unterstützung erfolgt idealerweise in drei klar definierten Stufen:
- Geringe Unterstützung (Unabhängigkeit fördern): In dieser Phase liegt der Fokus auf der Selbstkontrolle und der Reflexion. Die Hilfestellungen sind implizit und erfordern eine hohe Eigenleistung. Sie dienen primär dazu, die eigenen Denkprozesse zu steuern und zu überprüfen. Beispiele: Checklisten zur Selbstbewertung, kurze Feedbackbögen, Hinweise zur Fehlerlokalisierung und Verweis auf bereits bekannte Strategien
- Mittlere Unterstützung (Strategie lenken): Diese Hilfen zielen direkt auf die Schlüsselstrategie zur Lösung der Kernaufgabe ab, ohne die Lösung selbst vorwegzunehmen. Sie helfen dem Lernenden, den nächsten logischen oder konzeptionellen Schritt innerhalb der ZpE zu finden. Beispiele: Impulse (“Was passiert, wenn du die Figur ergänzt?”), grafische Organizer zur Strukturierung komplexer Aufgaben und vorbereitete Teilaufgaben, die den Weg bahnen
- Starke Unterstützung (Struktur und Modellierung): Dieses Niveau ist für Lernende gedacht, die ansonsten außerhalb ihrer ZpE frustriert wären. Die Hilfe strukturiert den Lösungsweg und dient als Gerüst, um das Ziel trotz fehlender Vorkenntnisse oder Schwierigkeiten in der sprachlichen/logischen Umsetzung zu erreichen. Beispiele: Lückentexte zur Herleitung oder Begründung, modellierte Musterlösungen mit Erklärungen als Lernvorlage und Schritt-für-Schritt-Anleitungen
Prinzip der Sukzessivität: Unterstützung wird abgebaut, wenn ein Lernender zeigt, dass er oder sie bereit ist – nicht früher und nicht zwingend vollständig. Der Fokus liegt auf Kompetenzaufbau, nicht auf schneller Autonomie.

Warum dieser Ansatz so viel wirkungsvoller ist
Wenn alle Lernenden auf ein gemeinsames Kompetenzziel hinarbeiten und die Unterstützung flexibel angepasst wird, verändert sich nicht nur der Unterricht – es verändert sich auch die Lernkultur. Differenzierung durch Unterstützung ist nicht nur theoretisch fundierter und gerechter, sie wirkt auch emotional, motivational und sozial tiefgreifend positiver als klassische Formen der Niveaudifferenzierung.
- Motivation durch echte Lernerfolge: Jedes Kind arbeitet an einer Aufgabe, die anspruchsvoll ist – aber mit der passenden Unterstützung bewältigt werden kann. Dadurch entsteht etwas, das im alten System selten gelang: Erfolgserlebnisse bei komplexen Herausforderungen. Diese Erfahrung – „Ich kann etwas Schwieriges schaffen, wenn ich eine gute Strategie und passende Hilfen nutze.“ – fördert eine Wachstumsmentalität im Sinne von Carol Dweck. Lernende begreifen ihre Kompetenz als veränderbar, nicht statisch. Motivation entsteht nicht durch „leichte Aufgaben“, sondern durch das Gefühl, an etwas Bedeutendem zu wachsen.
- Keine Stigmatisierung, keine “Schubladen”: Einer der größten Vorteile dieses Ansatzes ist die Entkopplung von Unterstützung und Leistungsbewertung. Es gibt keine „schwachen Gruppen“ mit vereinfachten Aufgaben und keine „starken Gruppen“ mit Zusatzmaterial. Alle arbeiten am selben Kernproblem – sichtbar auf Augenhöhe. Unterstützung wird damit zu einem selbstverständlichen Lernwerkzeug, nicht zu einem Etikett. Kinder lernen, dass Hilfestellungen nichts über ihren Wert aussagen, sondern Teil des Lernprozesses sind. Der Satz „Ich habe es geschafft – mit Unterstützung.“ wird zu einem positiven Selbstbild, nicht zu einem Makel.
- Fokus auf den Lernprozess statt auf schnelle Ergebnisse: In vielen Lernkulturen liegt der Akzent noch immer auf dem Produkt: Was wurde am Ende „herausbekommen“? Die Differenzierung durch Unterstützung verschiebt den Schwerpunkt auf den Weg dorthin: Wo brauche ich Hilfe? Welche Strategie hilft mir weiter? Welche Art von Unterstützung bringt mich näher an mein Ziel? Dies ist ein entscheidender Schritt hin zu selbstreguliertem Lernen, einer Kompetenz, die über die Schule hinaus bedeutsam bleibt. Lernende erfahren, dass anspruchsvolle Ziele selten ohne Hilfe erreicht werden – ein realistisches, gesundes Lernverständnis.
- Weniger Frustration, mehr Lernfreude: Wenn Aufgaben zu leicht oder zu schwer sind, erzeugt das Frustration – bei leistungsstarken und leistungsschwächeren Lernenden gleichermaßen.
Durch die passgenaue Unterstützung entsteht das Gegenteil: Passung. Die Folge ist eine spürbar angenehmere Lernatmosphäre: weniger Stress, weniger Abwehrhaltungen, mehr Interesse, mehr aktive Beteiligung. Die Lernenden erleben, dass Herausforderung und Wohlbefinden zusammengehören können, wenn die richtige Unterstützung vorhanden ist.
Eine echte Transformation der individuellen Förderung
Die Differenzierung durch Unterstützung hebt individuelle Förderung auf ein neues Niveau. Sie verabschiedet sich vom Gedanken, Leistungsunterschiede verwalten zu müssen, und ersetzt ihn durch das Ziel, Kompetenzwachstum für alle zu ermöglichen – in der jeweils optimalen Lernzone. Statt verschiedene Gipfel zu definieren, führt dieser Ansatz dazu, dass jede*r Lernende den gleichen Gipfel erreichen kann – mit einem Weg, der zu ihm oder ihr passt. Individuelle Förderung wird damit nicht zur Reduktion, sondern zur Ermächtigung.
Wie sich die Leistungsbewertung verändert – insbesondere im Umgang mit Noten
Die Differenzierung durch Unterstützung verändert nicht nur den Unterricht selbst, sondern auch die Logik der Leistungsbewertung. Sobald alle Lernenden am gleichen Kompetenzziel arbeiten, stellt sich die Frage: Wie werden Leistungen fair bewertet, wenn der Weg dorthin unterschiedlich stark unterstützt war? Die Antwort lautet: Bewertet wird die Kompetenz – nicht die benötigte Unterstützung.
Kompetenzorientierte Prüfungen (KO-Prüfungen)
Die Prüfungen bestehen aus Aufgaben, die die Anwendung und Verknüpfung von Wissen erfordern (kein reines Reproduzieren). Die Prüfungssituation erlaubt die Nutzung spezifischer, vorher definierter Unterstützungsangebote (z.B. Hilfekarten, Stichwortlisten, teilweise ausgefüllte Formeln, mündliche Impulse durch die Lehrkraft).
Die Note bezieht sich auf die erreichte Kompetenz, nicht auf die Selbstständigkeit
In traditionellen Bewertungssystemen wird häufig implizit vorausgesetzt, dass „gute Leistungen“ vor allem dadurch entstehen, dass Lernende möglichst ohne Hilfe arbeiten.
Im Modell der Differenzierung durch Unterstützung wird dieser Gedanke bewusst aufgelöst: Entscheidend ist, ob die Kompetenz gezeigt wird, nicht, wie viel Unterstützung dafür notwendig war. Ein Kind, das eine anspruchsvolle Begründungsaufgabe sichtbar verstanden und korrekt ausgeführt hat, zeigt dieselbe Kompetenz – unabhängig davon, ob es zuvor moderate oder intensive Hilfen erhalten hat. Noten differenzieren also zwischen Kompetenzniveaus, nicht zwischen Unterstützungsgraden.
Transparente Kriterien statt subjektive Gesamteindrücke
IDamit die Bewertung gerecht bleibt, braucht es klare, transparente Kriterien: Was genau muss ein Lernender können, um das Kompetenzziel zu erreichen? Welche qualitativen Merkmale kennzeichnen eine sehr gute, gute oder ausreichende Leistung? Wie sieht eine nachvollziehbare Begründung, Darstellung oder Herleitung aus?
Diese Kriterien bilden die Grundlage der Note – nicht der Weg dorthin. So entsteht ein Bewertungsrahmen, der sowohl herausfordernd als auch inklusive ist..
Noten spiegeln Entwicklung – nicht Defizite
Da die Lernwege individueller werden, können Noten wieder das zeigen, was sie eigentlich abbilden sollen: den Kompetenzstand eines Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt – nicht seine Geschwindigkeit, nicht seinen Unterstützungsbedarf, nicht seine Vorerfahrungen. In einem solchen System entsteht eine lernförderliche Grundhaltung: Eine schlechte Note ist kein Urteil über Fähigkeiten, sondern ein Hinweis, dass die Kompetenz noch nicht stabil genug ist. Für Lernende führt das zu einer deutlich konstruktiveren Wahrnehmung von Rückmeldungen. Noten verlieren ihren stigmatisierenden Charakter und werden zu einem Bestandteil des Lernprozesses.
Beispiel: Wie ein kompetenzorientierter Leistungsnachweis aussehen kann – mit wiederholbaren Tests
Stell dir vor, die angestrebte Kompetenz lautet: „Die Lernenden können die Flächenformel des Dreiecks herleiten, begründen und auf neue Situationen übertragen.“
Um diese Kompetenz valid zu prüfen, reicht ein einmaliger Test häufig nicht aus – vor allem nicht, wenn Lernende vorher unterschiedlich viel Unterstützung erhalten haben. Stattdessen bietet sich ein Verfahren an, das mehrere Gelegenheiten zum Kompetenznachweis schafft und so die Qualität der Bewertung erhöht.
- Phase 1: Lernphase mit Scaffolding: In dieser Phase erhält jedes Kind exakt die Unterstützung, die es braucht. Wichtig: Diese Unterstützung fließt nicht in die spätere Bewertung ein. Sie dient allein dem Ziel, die Kompetenz aufzubauen.
- Phase 2: Erster Kompetenznachweis – Test A: Der erste Test ist für alle identisch und besteht aus drei Teilen: Begründung/Herleitung, Anwendung auf ein kontextualisiertes Problem und Transferaufgabe, z. B. Vergleich verschiedener Dreiecksformen. Die Bewertung erfolgt anhand eines Rubrics, z. B.: Niveau 3: Kompetenz vollständig, sicher und begründet, Niveau 2: Kompetenz erkennbar, aber mit Lücken, Niveau 1: Kompetenz nur teilweise vorhanden, Niveau 0: Kompetenz nicht nachgewiesen. Es wird nur die Kompetenz bewertet, nicht der Lösungsweg oder der Unterstützungsbedarf in der Lernphase davor.
- Phase 3: Feedback + Unterstützungsintervention: Nach Test A erhalten die Lernenden: individuelles Feedback, Hinweise, wo Verständnislücken bestehen, gezielte kurze Unterstützung (Mini-Scaffolds), Materialien zur Wiederholung. Kein Kind wird für eine „erste Version“ bestraft. Der Test ist ein Lernschritt, kein Urteil.
- Phase 4: Zweiter Kompetenznachweis – Test B (Wiederholung): Nach einer kurzen Übungsphase erfolgt ein zweiter Test – inhaltlich ähnlich, aber nicht identisch, damit Transfer überprüft wird. Wichtig: Er prüft dieselbe Kompetenz. Er hat das gleiche Niveau. Er gibt eine zweite Chance, die Kompetenz in stabiler Form zu zeigen.
Viele Schulen arbeiten hier mit:
Best-of-Prinzip: Die bessere der beiden Leistungen zählt.
Wachstumsprinzip: Es zählt die neue Leistung („Letzter Stand“).
Mittelwert-Prinzip: Beide Leistungen werden kombiniert (eher selten bei strikter Kompetenzorientierung).
Das faire und kompetenzorientierte Modell ist meist: Der letzte Kompetenzstand zählt, weil er die Frage beantwortet: Beherrscht das Kind die Kompetenz jetzt?
Wie das Ganze notentechnisch fair bleibt
Nicht bewertet wird: Wie viel Hilfe ein Kind in der Lernphase brauchte.
Bewertet wird: Ob das Kind zu einem späteren Zeitpunkt die Kompetenz zeigt.
Erlaubt ist: Dass ein Kind mehrere Versuche braucht.
Erwünscht ist: Dass Kinder durch Wiederholung stärker werden.
Damit erfüllt die Notengebung tatsächlich ihren Zweck: den erreichten Kompetenzstand sichtbar zu machen – und nicht die Schnelligkeit oder Selbstständigkeit auf dem Weg dorthin.
Fazit: Ein gemeinsamer Gipfel – viele Wege hinauf
Die Differenzierung durch Unterstützung verändert Unterricht in seinem Kern. Sie verabschiedet sich von der Idee, für unterschiedliche Lernende unterschiedliche Ziele zu definieren – und richtet stattdessen den Blick auf das, was alle gemeinsam erreichen können: anspruchsvolle, tiefgreifende Kompetenzen. Indem nicht die Aufgaben, sondern die Hilfen differenziert werden, entsteht ein Lernraum, in dem alle Kinder ernst genommen werden, in dem niemand unter- oder überfordert wird und in dem jedes Kind das Gefühl erleben kann: „Ich kann etwas Schwieriges schaffen.“
Dieser Ansatz ist nicht nur fachlich solide, sondern auch menschlich überzeugend. Er sorgt für mehr Motivation, mehr Lernfreude, weniger Stigmatisierung und eine gerechtere Leistungsbewertung. Noten werden wieder zu dem, was sie sein sollten: eine Rückmeldung über den aktuellen Kompetenzstand, nicht über Schnelligkeit, Vorerfahrung oder Unterstützungsbedarf. Wenn wir Unterricht so gestalten, dass jedes Kind – mit seiner individuellen Ausrüstung – den gemeinsamen Gipfel erreichen kann, dann entsteht eine Lernkultur, die Wachstum ermöglicht. Nicht als Ausnahme, sondern als Grundhaltung. Nicht für einige, sondern für alle. Differenzierung durch Unterstützung ist damit weit mehr als eine Methode.
Sie ist ein pädagogisches Versprechen: Gemeinsame Ziele, faire Chancen und echtes Kompetenzwachstum für jedes Kind.

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