Lernziele sind in der Bildungsforschung als wesentliche Komponente des selbstregulierten Lernens anerkannt. Sie geben dem Lernprozess Struktur, bieten Orientierung und fördern die Motivation. Im Modell des selbstregulierten Lernens (Self-Regulated Learning, SRL) von Winne und Hadwin (1998) spielen Lernziele eine zentrale Rolle. Dieses Modell beschreibt, wie Lernende in vier Phasen systematisch Informationen verarbeiten, Entscheidungen treffen und ihr Lernen steuern. Doch wie genau helfen Lernziele in diesem Prozess, und warum sind sie so entscheidend für effektives, selbstreguliertes Lernen?
- Phase 1 – Definition der Aufgabe: In der ersten Phase des SRL-Modells, der Definition der Aufgabe, geht es darum, dass Lernende zunächst verstehen, was von ihnen erwartet wird. Lernziele helfen in dieser Phase, die Anforderungen klar zu umreißen und sich auf den Kern der Aufgabe zu konzentrieren. Sie fördern ein tiefes Verständnis der Aufgabe und verhindern Ablenkungen durch irrelevante Informationen.
- Phase 2 – Zielsetzung und Planung: Lernziele werden in der zweiten Phase, der Zielsetzung und Planung, konkretisiert. Ziele, die spezifisch, messbar und realistisch sind, bilden die Basis für die Planung des Lernprozesses. Lernende können nun bestimmen, welche Schritte erforderlich sind, um das Ziel zu erreichen, und sich auf die notwendigen Ressourcen und Strategien konzentrieren.
- Phase 3 – Lernstrategien anwenden und überwachen: Die dritte Phase des SRL-Modells beinhaltet die Anwendung von Lernstrategien und die Überwachung des Fortschritts. Lernziele bieten hier den Referenzpunkt, an dem Lernende ihren Fortschritt messen können. Durch kontinuierliches Monitoring können sie feststellen, ob sie sich dem Ziel nähern oder ob Anpassungen nötig sind.
- Phase 4 – Anpassung der Strategien und Reflexion: In der letzten Phase des Modells wird die Reflexion und Anpassung fokussiert. Hier betrachten Lernende, ob sie ihre Ziele erreicht haben und wie effektiv die gewählten Strategien waren. Wenn das Lernziel nicht vollständig erreicht wurde, dient die Reflexion dazu, den Lernprozess für zukünftige Aufgaben anzupassen.
Lernziele sind im SRL-Modell von Winne und Hadwin nicht nur ein elementarer Bestandteil jeder Phase, sondern sie fördern auch ein höheres Maß an Selbststeuerung und Selbstbewusstsein im Lernprozess. Durch klare, sinnvolle und herausfordernde Ziele entwickeln Lernende ein besseres Verständnis für ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Sie helfen, sich auf relevante Informationen zu konzentrieren, die Motivation zu steigern und den Lernprozess aktiv zu gestalten.
Lernende, die ihre Ziele gut formulieren und ihren Fortschritt reflektieren, profitieren von einer höheren Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. Dies unterstützt sie dabei, auch anspruchsvolle Aufgaben zu meistern und durch kontinuierliches Lernen langfristig erfolgreich zu sein.
Studie von Carr, Moore und Anderson (2014)
In dem Artikel „Goal Setting Interventions: Implications for Participants on the Autism Spectrum“ untersuchen die Autoren, wie Zielsetzungsinterventionen das selbstregulierte Lernen (SRL) fördern können.
Theoretischer Hintergrund Die Fähigkeit, Ziele zu setzen und zu erreichen, ist ein wichtiger Bestandteil der Selbstbestimmung, insbesondere für Personen mit Entwicklungs- oder Lernbehinderungen. Zielsetzungsstrategien werden in der Literatur als Mittel zur Förderung von Selbstregulationsfähigkeiten bei Lernenden beschrieben. Während Zielsetzungsinter-ventionen für Schüler*innen mit kognitiven Behinderungen dokumentiert sind, gibt es nur begrenzte Erkenntnisse über die Wirksamkeit solcher Interventionen für Schüler*innen auf dem Autismusspektrum. Diese Lücke versucht der vorliegende Artikel zu schließen.
Fragestellung und deren Relevanz Die Studie untersucht die Strukturierung und Auswirkungen von Zielsetzungsinterventionen auf die Leistungsfähigkeit von Personen mit Autismusspektrumstörungen (ASS). Es wird analysiert, wie diese Interventionen gestaltet wurden, welche Verhaltensänderungen angestrebt wurden und inwieweit eine Selbststeuerung der Ziele durch die Teilnehmenden möglich war. Ziel ist es, Empfehlungen für künftige Forschung und Praxis zu geben.
Methode Der Artikel basiert auf einer systematischen Literaturrecherche, bei der 38 Einzelstudien mit Zielsetzungsinterventionen für eine diverse Gruppe von Schüler*innen ausgewertet wurden. Alle Studien verwendeten Einzelfall-Forschungsdesigns (Single-Case Designs) und und umfassten folgende Interventionskomponenten:
- Selbstgesetzte Ziele vs. Fremdgesetzte Ziele: Die Studie untersuchte, ob die Schüler*innen ihre Ziele selbst festlegten oder ob sie Unterstützung von außen (z. B. durch Lehrkräfte oder Betreuerinnen) erhielten. Selbstgesetzte Ziele zeigten oft eine höhere Wirksamkeit, da sie die Motivation und Eigenverantwortung der Teilnehmer*innen stärkten.
- Zielgraphiken und -tracking: Die Schüler*innen führten eine grafische Aufzeichnung ihrer Fortschritte, indem sie ihre täglichen Leistungen (z. B. erreichte Werte in Mathematikübungen) selbst dokumentierten. Diese Visualisierung half, Erfolge sichtbar zu machen und das Bewusstsein für den eigenen Fortschritt zu schärfen.
- Verstärkung und Rückmeldung: Während der Intervention erhielten die Schüler*innen regelmäßig positives Feedback, sowohl für das Erreichen der Ziele als auch für Anstrengungen, die dem Ziel näherkamen. Diese Rückmeldungen förderten die Motivation und halfen den Teilnehmerinnen, ihre Ziele weiterhin zu verfolgen.
- Aufteilung von Zielen in kleinere Schritte: Größere Ziele wurden oft in kleinere, überschaubare Schritte unterteilt, sodass die Schüler*innen sich auf Zwischenziele konzentrieren konnten. Dies half, Überforderung zu vermeiden und ermöglichte kontinuierliche Fortschritte.
- Aufrechterhaltung und Generalisierung der Fähigkeiten: Die Studie untersuchte auch, ob die erlernten Zielsetzungsfähigkeiten über die Zeit beibehalten und auf neue Situationen übertragen werden konnten. Das Ziel war, den Schüler*innen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie selbstständig und langfristig ihre Ziele verfolgen konnten, auch nach dem Ende der Intervention.
Zentrale Ergebnisse
- Wie wurden die Zielsetzungsinterventionen strukturiert? In den untersuchten Studien wurde Zielsetzung häufig als Teil eines Interventionspakets gemeinsam mit anderen Elementen wie Verträgen (3 Studien), Selbstüberwachung (25 Studien), Verstärkung (15 Studien) und Rückmeldungen (17 Studien) angewendet. Auch der Einsatz von Technologie, wie computergestütztem Lernen (1 Studie) und Video-Modellierung (1 Studie), wurde beschrieben. In sechs Studien (16 %) wurde eine gezielte Anleitung zur Zielsetzung gegeben, und in zwei Studien (5 %) kamen Techniken zur Förderung selbstregulierter Strategien (SRSD) zum Einsatz. In vier Studien (11 %) war das öffentliche Teilen von Zielen Teil der Intervention. Lyman (1984) untersuchte die Wirkung von privat gesetzten Zielen im Vergleich zur öffentlichen Zielsetzung bei Schüler*innen. Es zeigte sich, dass die Schüler*innen den Aufgaben in der öffentlichen Zielsetzungsbedingung mehr Aufmerksamkeit widmeten. Zielsetzung wurde in zwei Studien (5 %) erst in der späteren Phase der Intervention eingeführt. Eine davon verglich die Leistung der Schüler*innen mit und ohne Zielsetzung, wobei ein deutlicher Leistungszuwachs bei der Verwendung von Zielsetzung und verstärkender Rückmeldung festzustellen war (Maag et al., 1992). Insgesamt zeigte sich in diesen Studien, dass Zielsetzung positive Effekte auf das Verhalten und die Leistung der Lernenden hatte, besonders in Kombination mit anderen Interventionselementen. Jedoch wurde die Wirkung von Zielsetzung allein nur in wenigen Studien isoliert untersucht.
- Auf welche Arten von Zielverhalten wurde die Zielsetzung angewandt? Diese Interventionen zielten auf eine Vielzahl von Verhaltensweisen ab, darunter Übergangsplanung (2 Fälle), Reduktion problematischer Verhaltensweisen (8), Mathematik (9), Schreiben (6), Lesen (1), alle akademischen Fächer (3), Hausaufgaben (4), Projekte (1), soziale Fähigkeiten (1), sportliche Leistungen (7), Entwicklung körperlicher Aktivität (1) und berufliche Aufgaben (4). Die Zielverhaltensweisen wurden anhand der Teilnehmerzahlen veranschaulicht. Barry und Messer (2003) kombinierten Zielsetzung und Selbstmanagement, um das Aufgabeverhalten und die akademische Leistung bei fünf Jungen mit ADHS zu verbessern und störendes Verhalten zu reduzieren. Die Lehrkraft legte Ziele basierend auf dem Klassendurchschnitt fest und nutzte Selbstaufzeichnung, Lehrkräfte-Feedback und Verstärkung. Die Unterstützung wurde allmählich reduziert, um eine langfristige Aufrechterhaltung zu gewährleisten. Tollefson et al. (1986) zielten darauf ab, das Abschließen von Klassenzimmer- und Hausaufgaben bei acht Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten zu steigern. Die Schüler*innen formulierten eigene Leistungsziele und Pläne zur Zielerreichung, die sie selbst überwachten. Vier Schüler*innen erhielten zudem einen „Hausaufgabenvertrag“ zur Förderung der Generalisierung. Die Intervention erhöhte sowohl die Bearbeitungsrate als auch das Selbstvertrauen der Schüler*innen in ihre Planungsfähigkeiten.
Praktische Implikationen
Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich mehrere praktische Implikationen für Lehrkräfte und die Gestaltung von selbstreguliertes Lernen (SRL) fördernden Lernumgebungen ableiten. Diese Implikationen zeigen, wie Lehrkräfte gezielt Strategien einsetzen können, um das Zielsetzungsverhalten und damit die Selbstregulation der Lernenden zu stärken:
- Selbstgesetzte Ziele fördern: Lehrkräfte sollten Schüler*innen aktiv dabei unterstützen, sich eigene, realistische und erreichbare Lernziele zu setzen. Selbstgesetzte Ziele fördern das Engagement und die Eigenverantwortung und sind deshalb besonders wirksam. Lehrkräfte könnten beispielsweise regelmäßige „Zielsetzungsphasen“ im Unterricht einführen, in denen Schüler*innen ihre Lernziele formulieren und reflektieren.
- Visuelle Fortschrittsverfolgung integrieren: Die in der Studie eingesetzten Zielgraphiken und Tracking-Tools sind eine wertvolle Methode, um den Lernprozess zu visualisieren und Motivation zu stärken. Lehrkräfte könnten Schüler*innen einfache Möglichkeiten bieten, ihre Fortschritte zu dokumentieren, wie etwa Tabellen, Diagramme oder Lerntagebücher. Diese Tools fördern die Reflexion und machen Fortschritte auch bei langen Lernzielen sichtbar.
- Positives Feedback und Verstärkung: Regelmäßiges, konstruktives Feedback ist entscheidend, um Schüler*innen zu motivieren und das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu stärken. Lehrkräfte sollten Rückmeldungen nicht nur für Zielerreichungen geben, sondern auch für den Einsatz von Anstrengung und Ausdauer. Dies unterstützt das Durchhalten und die Anpassung der Ziele, falls nötig.
- Ziele in kleinere Schritte unterteilen: Gerade bei komplexen oder langfristigen Lernzielen hilft es, diese in kleine, erreichbare Teilziele zu unterteilen. Dies kann Überforderung vorbeugen und kontinuierliche Erfolge sichtbar machen. Lehrkräfte könnten Schüler*innen anleiten, ihre großen Ziele in Wochen- oder Tagesziele zu zerlegen, was auch die Selbstwirksamkeit stärkt.
- Generalisation und Transfer fördern: Damit Schülerinnen die Fähigkeiten zur Selbstregulation auch außerhalb des Unterrichts anwenden, ist es wichtig, ihnen Gelegenheiten zur Generalisierung zu bieten. Lehrkräfte könnten die Schüler*innen ermutigen, Zielsetzungsstrategien in unterschiedlichen Fächern und Alltagssituationen zu nutzen. Beispielsweise könnte eine Klassenaktivität zur Wochenzielsetzung auch zu Hause oder in anderen Schulfächern angewendet werden.
- SRL-förderliche Materialien und Struktur anbieten: Materialien, die strukturierte Zielsetzung und Reflexion ermöglichen, unterstützen die Selbstregulation der Schüler*innen. Lehrkräfte könnten Vorlagen für Wochenpläne, Reflexionsbögen oder Checklisten bereitstellen, um Schüler*innen eine klare Struktur für ihre Zielverfolgung und Reflexion zu bieten.
Indem Lehrkräfte diese Prinzipien in ihren Unterricht integrieren, können sie eine SRL-förderliche Lernumgebung schaffen, die nicht nur das Zielsetzungsverhalten stärkt, sondern auch die übergeordnete Kompetenz zur Selbstregulation langfristig aufbaut. Daneben können auch Eltern bei der Entwicklung der Zielsetzungsfähigkeit von Kindern, insbesondere in jungen Jahren und bei Kindern mit besonderen Lernbedürfnissen, unterstützen. Sie können diese Fähigkeit auf mehrere Arten beeinflussen:
- Modellieren von Zielsetzungsverhalten: Eltern, die selbst klar definierte Ziele setzen und verfolgen, geben ihren Kindern ein Vorbild für strategisches Planen und Zielverfolgung. Kinder lernen durch Beobachtung, wie Ziele formuliert und Hindernisse überwunden werden.
- Unterstützung und Anleitung: Besonders jüngere Kinder und solche mit Schwierigkeiten im Bereich Selbstregulation und Zielverfolgung benötigen oft direkte Unterstützung beim Setzen realistischer Ziele. Eltern können hier helfen, indem sie die Ziele gemeinsam mit dem Kind formulieren und in erreichbare Teilziele unterteilen.
- Förderung von Reflexion und Selbstwirksamkeit: Eltern tragen dazu bei, dass Kinder ihre Fortschritte reflektieren und Selbstwirksamkeit entwickeln, indem sie Erfolge anerkennen und sie ermutigen, aus Rückschlägen zu lernen. Dadurch gewinnen Kinder Vertrauen in ihre Fähigkeiten und lernen, Ziele eigenständig zu setzen und zu verfolgen.
- Schaffen einer unterstützenden Umgebung: Eltern können eine strukturierte Umgebung schaffen, die zielgerichtetes Verhalten begünstigt, z. B. durch Routinen und eine ruhige Lernumgebung. So können Kinder sich besser auf ihre Ziele konzentrieren und ihr Zielsetzungsverhalten stärken.
- Emotionale Unterstützung und Motivation: Kinder brauchen emotionale Unterstützung, um an ihren Zielen dranzubleiben, besonders bei Rückschlägen. Eltern können durch Motivation und Ermutigung das Durchhaltevermögen fördern und Kindern helfen, Herausforderungen als Teil des Lernprozesses zu betrachten.
Literatur
Carr, M. E., Moore, D. W., & Anderson, A. (2014). Goal setting interventions: Implications for participants on the autism spectrum. Review Journal of Autism and Developmental Disorders, 1, 225-241.
Winne, P. H., & Hadwin, A. F. (1998). Studying as self-regulated learning. In D. J. Hacker, J. Dunlosky, & A. Graesser (Eds.), Metacognition in educational theory and practice (S. 277–304). Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum.
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