Joscha Falck hat in seinem Beitrag eindrucksvoll eine Reihe von Paradoxien beschrieben, die beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im schulischen Kontext auftreten. Diese Widersprüche – darunter das Entlastungsparadoxon, das Kompetenzparadoxon und das Gerechtigkeitsparadoxon – verdeutlichen, dass die Einführung von KI-Systemen in den Unterricht nicht nur Chancen, sondern auch fundamentale Spannungsfelder mit sich bringt. Aufbauend auf diesen Beobachtungen haben wir weitere Paradoxien identifiziert, die den Umgang mit KI in der Schule zusätzlich erschweren. Diese Paradoxien eröffnen eine tiefere Auseinandersetzung mit den strukturellen und praktischen Herausforderungen, denen sich Lehrkräfte, Schüler*innen und Bildungseinrichtungen stellen müssen.

Das Fortbildungsparadoxon: Kein Raum für langsame Lernprozesse

Lehrkräfte fordern häufig mehr Zeit, um sich in die neuen Technologien und den Einsatz von KI im Unterricht einzuarbeiten. Das Fortbildungsparadoxon besteht jedoch darin, dass die rasante Entwicklung der KI genau diese Zeit nicht erlaubt. KI verändert sich mit einer Geschwindigkeit, die traditionelle Fortbildungsprozesse überholt. Während Schulen und Lehrkräfte sich langsam an neue Technologien anpassen, entstehen bereits die nächsten Innovationen, die neue Anforderungen mit sich bringen. Die Folge ist, dass Lehrkräfte kontinuierlich lernen müssen – nicht in festen Fortbildungseinheiten, sondern im täglichen Unterrichtsgeschehen (Karsenti, 2019).

Das Akzeptanzparadoxon: KI als Fortschritt oder als Gefahr?

Obwohl viele Lehrkräfte die Vorteile von KI theoretisch anerkennen, fällt die praktische Umsetzung oft schwer. Das Akzeptanzparadoxon zeigt, dass KI auf der einen Seite als Werkzeug zur Entlastung und Effizienzsteigerung wahrgenommen wird, auf der anderen Seite jedoch Misstrauen und Skepsis auslöst. Dieses Misstrauen – sei es gegenüber der Technologie selbst oder den möglichen negativen Auswirkungen auf den Unterricht – verhindert oft eine breitere Akzeptanz und Nutzung von KI im Schulalltag. Damit bleibt KI ein Potenzial, das nur zögerlich oder sogar gar nicht ausgeschöpft wird (Nazaretsky et al., 2022).

Das Innovationsparadoxon: Schule als Träger des Wandels und Blockierer zugleich

Das Innovationsparadoxon beschreibt den Widerspruch, dass Schulen einerseits dazu angehalten sind, Innovationen wie KI zu fördern und in den Unterricht zu integrieren, andererseits aber in veralteten Strukturen feststecken, die schnelle Veränderungen verhindern. Lehrkräfte sollen Schüler*innen auf eine Zukunft vorbereiten, in der KI eine zentrale Rolle spielt. Gleichzeitig verhindern starre administrative Strukturen, mangelnde finanzielle Mittel und fehlende Infrastrukturen die notwendige Flexibilität, um diese Innovationen zu implementieren. Schulen werden so zu einem Ort, an dem Innovation gefordert, aber nur schwer umgesetzt wird (Rietz & Völmike, 2020).

Das Praxisparadoxon: Theoretisches Wissen ohne praktische Umsetzung

Lehrkräfte wissen, dass sie ihre Unterrichtspraktiken an die neuen Anforderungen der digitalen Welt anpassen müssen. Das Praxisparadoxon verdeutlicht jedoch, dass es oft an konkreten Anwendungsbeispielen und Best Practices mangelt, um KI sinnvoll und effektiv in den Unterricht zu integrieren. Während Lehrkräfte theoretisch auf den Einsatz von KI vorbereitet werden, fehlt es in der Praxis an Unterstützung und Ressourcen, um diese theoretischen Ansätze in den Schulalltag zu übersetzen. Dadurch bleibt KI für viele Lehrkräfte ein abstraktes Konzept, das nur schwer in die tägliche Arbeit integriert werden kann (bildung.digital, o.J.).

Das Autonomieparadoxon: Förderung und Untergrabung der Selbstständigkeit

KI hat das Potenzial, Schülerinnen mehr Autonomie beim Lernen zu ermöglichen, indem sie personalisierte Lernwege und individuelles Feedback bietet. Gleichzeitig zeigt das Autonomieparadoxon, dass diese Förderung der Selbstständigkeit durch die Abhängigkeit von technologischen Lösungen untergraben wird. Schülerinnen verlassen sich zunehmend auf KI, um ihre Lernprozesse zu steuern, was langfristig zu einer Reduzierung der Eigeninitiative führen könnte. Während KI auf der einen Seite die Autonomie stärkt, schwächt sie gleichzeitig die Fähigkeit zur selbstständigen Problemlösung (Zhai, Wibowo & Li, 2024).

Das Feedbackparadoxon: Sofortiges Feedback versus Eigenreflexion

KI-Systeme bieten die Möglichkeit, Schülerinnen sofortiges, personalisiertes Feedback zu geben, was den Lernprozess beschleunigt und verbessert. Doch das Feedbackparadoxon zeigt, dass diese ständige Verfügbarkeit von Rückmeldungen auch negative Auswirkungen haben kann. Wenn Schülerinnen sich zu sehr auf automatisierte Feedbackmechanismen verlassen, könnte ihre Fähigkeit zur Eigenreflexion und zum selbstständigen Korrigieren von Fehlern schwinden. Diese Abhängigkeit von KI-basiertem Feedback könnte die Entwicklung wichtiger metakognitiver Fähigkeiten hemmen (Zhai, Wibowo & Li, 2024).

Das Erwartungsparadoxon: Überhöhte Erwartungen an KI-Systeme

Ein weiteres Paradoxon, das im Zusammenhang mit der Einführung von KI in Schulen auftritt, ist das Erwartungsparadoxon. Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern erwarten oft, dass KI-Lösungen schnell und effizient alle bestehenden Probleme des Bildungssystems lösen können – von der Differenzierung im Unterricht bis zur Schaffung von Chancengleichheit. Gleichzeitig führt diese überhöhte Erwartungshaltung dazu, dass jede Einschränkung oder Schwäche der KI als Scheitern wahrgenommen wird. Dies kann zu Enttäuschung führen und den Einsatz von KI im Bildungsbereich langfristig behindern (Humble & Mozelius, 2022).

Das Transparenzparadoxon: Verlangen nach Klarheit in einer Black Box

Lehrkräfte und Schüler*innen fordern zunehmend Transparenz darüber, wie KI-Entscheidungen getroffen werden und welche Algorithmen hinter den Tools stehen. Doch das Transparenzparadoxon zeigt, dass die zugrundeliegenden Technologien oft so komplex sind, dass sie von den meisten Nutzern – insbesondere im schulischen Kontext – kaum verstanden werden können. Während also eine erhöhte Transparenz gefordert wird, bleibt KI für viele eine „Black Box“, deren Entscheidungsprozesse nur schwer nachvollziehbar sind. Diese Intransparenz erschwert das Vertrauen in KI-Systeme und deren breitere Akzeptanz (Bearman & Ajjawi, 2023).

Das Verantwortungsparadoxon: Verantwortung ohne Kontrolle

Das Verantwortungsparadoxon beschreibt den Widerspruch zwischen der Verantwortung der Lehrkräfte, Schüler*innen auf die Zukunft vorzubereiten, und der Tatsache, dass sie wenig Kontrolle über die technologische Entwicklung haben. Während Lehrkräfte an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, KI in den Unterricht zu integrieren, liegt die Verantwortung für die Entwicklung, Implementierung und Regulierung dieser Technologien auf höheren administrativen Ebenen. Diese Diskrepanz zwischen Verantwortung und Kontrolle schafft Unsicherheit und erschwert die zielführende Nutzung von KI im Unterricht (Holmes et al., 2022).

Das Bewertungparadoxon: Alte Bewertungssysteme für neue Lernmethoden

Schließlich beschreibt das Bewertungparadoxon den Widerspruch, dass neue KI-gestützte Lernmethoden in ein Bewertungssystem eingebettet werden müssen, das oft veraltet und auf traditionelle Lehrmethoden ausgerichtet ist. Während prozessorientierte und kompetenzbasierte Bewertungsformen für den Einsatz von KI sinnvoll wären, bleibt die Praxis oft in festgefahrenen Strukturen stecken, die wenig Raum für innovative Bewertungsansätze bieten. Dies führt zu einer Diskrepanz zwischen modernen Lernmethoden und traditionellen Bewertungsstrukturen, die den Fortschritt hemmen (Renz, Krishnaraja & Gronau , 2020).

Schlussfolgerung: Widersprüche als Chance für Veränderung

Die beschriebenen Paradoxien verdeutlichen, dass der Einsatz von KI im Bildungsbereich mit tiefgreifenden Spannungsfeldern verbunden ist, die nicht einfach aufgelöst werden können. Dennoch bieten diese Widersprüche auch die Chance, das Bildungssystem kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Um die Potenziale von KI zu nutzen, müssen Lehrkräfte, Schüler*innen und Bildungseinrichtungen gemeinsam lernen, mit diesen Paradoxien umzugehen. Anstatt sie als Hindernisse zu betrachten, können sie als Katalysatoren für notwendige Veränderungen dienen. Die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen im Einsatz von Künstlicher Intelligenz kann uns helfen, innovative Ansätze zu entwickeln, die sowohl die technologischen Möglichkeiten als auch die Bedürfnisse des Bildungssystems in Einklang bringen.

Widersprüche als Treiber für Innovation

Die Erkenntnis, dass wir die Paradoxien im Umgang mit KI nicht sofort auflösen können, sollte uns nicht entmutigen. Vielmehr könnte die Beschäftigung mit diesen Spannungsfeldern der erste Schritt sein, um nachhaltige und zukunftsfähige Lösungen zu finden. Es braucht eine grundlegend neue Herangehensweise, bei der Lehrkräfte als aktive Gestalter und nicht nur als Nutzer von Technologien agieren. Gemeinsam mit Schüler*innen sollten sie die Rolle der KI im Unterricht reflektieren, kritisch hinterfragen und flexibel anpassen.

Gleichzeitig müssen Schulen und Bildungseinrichtungen agiler werden. Es reicht nicht mehr, nur in starren Fortbildungszyklen zu denken. Lehrkräfte müssen in die Lage versetzt werden, sich kontinuierlich weiterzubilden und die neuesten technologischen Entwicklungen in Echtzeit zu integrieren. Dies erfordert nicht nur neue Fortbildungskonzepte, sondern auch eine grundlegende Veränderung in der Art und Weise, wie wir über Unterricht, Lernen und Technologie sprechen.

Handlungsempfehlungen: Wie gehen wir mit den Paradoxien um?

Um die beschriebenen Paradoxien produktiv anzugehen, sind mehrere Schritte erforderlich:

1. Förderung einer Kultur des kontinuierlichen Lernens:

Anstatt auf sporadische Fortbildungsangebote zu setzen, sollten Schulen und Bildungseinrichtungen eine Kultur des kontinuierlichen Lernens fördern. Lehrkräfte müssen Zugang zu Ressourcen haben, die es ihnen ermöglichen, sich regelmäßig über technologische Entwicklungen zu informieren und diese direkt in ihren Unterricht zu integrieren. Dies könnte durch Peer-Learning, Online-Plattformen oder praxisorientierte Workshops geschehen.

2. Flexibilisierung der Bildungsinfrastruktur:

Um mit der Geschwindigkeit der technologischen Innovationen Schritt zu halten, muss die Infrastruktur an Schulen flexibler gestaltet werden. Es braucht nicht nur technische Ressourcen, sondern auch administrative Unterstützung, um neue Technologien schnell und unbürokratisch zu integrieren. Bildungspolitik und Schulverwaltungen müssen schneller auf technologische Veränderungen reagieren, anstatt in traditionellen Verwaltungsstrukturen festzustecken.

3. Transparenz und Aufklärung über KI-Systeme:

Um das Vertrauen in KI zu stärken, müssen Lehrkräfte und Schülerinnen verstehen, wie KI-Entscheidungen zustande kommen. Hier braucht es mehr Transparenz über die Funktionsweise der Algorithmen und eine stärkere Aufklärung über die Potenziale und Grenzen der Technologie. Dies könnte durch Workshops, Schulungen oder öffentlich zugängliche Informationen über die genutzten KI-Systeme geschehen.

4. Entwicklung neuer Bewertungsformen:

Die Einführung neuer Lehrmethoden durch KI erfordert auch eine Anpassung der Bewertungsstrukturen. Statt starrer Notensysteme sollten kompetenzorientierte und prozessorientierte Bewertungsformen entwickelt werden, die die Lernprozesse der Schülerinnen besser abbilden. Hier müssen Schulen, Bildungsadministrationen und Lehrkräfte gemeinsam neue Konzepte entwickeln, um der Realität des modernen Unterrichts gerecht zu werden.

5. Kollektive Zusammenarbeit und Reflexion:

Um die Paradoxien zu bewältigen, müssen Lehrkräfte, Schüler*innen und auch Bildungspolitik gemeinsam an einem Strang ziehen. Das bedeutet, dass sich alle Beteiligten aktiv an einem kontinuierlichen Reflexionsprozess beteiligen und bereit sind, ihre eigenen Praktiken kritisch zu hinterfragen. Nur durch kollektive Zusammenarbeit kann eine nachhaltige und sinnvolle Integration von KI in den Schulalltag gelingen.

Fazit: Paradoxien als Wegweiser für die Zukunft

Die Einführung von Künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich bringt zahlreiche Widersprüche und Spannungsfelder mit sich. Doch anstatt diese Paradoxien als unüberwindbare Hürden zu betrachten, sollten wir sie als Wegweiser für die Zukunft sehen. Sie zwingen uns, alte Strukturen zu hinterfragen und neue Ansätze zu entwickeln, die den Anforderungen der digitalen Welt gerecht werden.

Indem wir die Paradoxien aushalten und sie kritisch reflektieren, können wir den Weg für eine innovative und gerechte Bildungslandschaft ebnen. Es liegt in unserer Hand, ob wir diese Herausforderungen als Blockaden betrachten oder als Chancen, das Bildungssystem grundlegend zu transformieren.

Eine Reaktion auf den Beitrag von Joscha Falck.

Literatur:

Bearman, M., & Ajjawi, R. (2023). Learning to work with the black box: Pedagogy for a world with artificial intelligence. British Journal of Educational Technology, 54 (5), 1160-1173.

Holmes, W., Porayska-Pomsta, K., Holstein, K. et al. (2022). Ethics of AI in Education: Towards a Community-Wide Framework. Int J Artif Intell Educ 32, 504–526 (2022). https://doi.org/10.1007/s40593-021-00239-1.

Humble, N. & Mozelius, P. (2022). The threat, hype, and promise of artificial intelligence in education. Discov Artif Intell 2, 22. https://doi.org/10.1007/s44163-022-00039-z

Karsenti, T., (2019). Artificial intelligence in education: The urgent need to prepare teachers for tomorrow’s schools. Formation et profession, 27(1), 105-111. http://dx.doi.org/10.18162/fp.2018.a166

Nazaretsky, T., Ariely, M., Cukurova, M., & Alexandron, G. (2022). Teachers’ trust in AI‐powered educational technology and a professional development program to improve it. British journal of educational technology53(4), 914-931.

Renz, A., Krishnaraja, S., & Gronau, E. (2020). Demystification of Artificial Intelligence in Education – How much AI is really in the Educational Technology?. International Journal of Learning Analytics and Artificial Intelligence for Education (iJAI)2(1), 14–30. https://doi.org/10.3991/ijai.v2i1.12675

Rietz, C. & Völmicke, E. (2020). Künstliche Intelligenz und das deutsche Schulsystem. In: Ternès von Hattburg, A., Schäfer, M. (eds) Digitalpakt – was nun?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25530-5_10

Zhai, C., Wibowo, S. & Li, L.D. (2024). The effects of over-reliance on AI dialogue systems on students’ cognitive abilities: a systematic review. Smart Learn. Environ. 11, 28. https://doi.org/10.1186/s40561-024-00316-7


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert